Nora-Sophie, Dekoteam & Video Content

Team Insights & Interview

Sekundenschnelles Tippen, Bewerten und Wischen in endloser Wiederholung. Willkommen in der Ära der digitalen Einsamkeit!

Wir liken, teilen, scrollen uns durch das Leben anderer, sind 24/7 online und immer erreichbar. Wir haben mehr Freund:innen als je zuvor. Aber mit wem reden wir wirklich, welche Momente sind echt?

Blickt man auf eine Zeit zurück, als die Szene noch verhältnismäßig neu war und man sich innerhalb einer eingeschworenen Community für jedweden Austausch live verabreden, zum Festnetztelefon greifen oder A-Mails (also analoge Briefe) versenden musste, so scheint das Bedürfnis nach wahrhaftiger Echtheit post Covid im Basement der Überflüssigkeit angekommen zu sein. Von kollektivem Hedonismus und Eskapismus zu kollektiver Isolation. Statt gemeinsam durchzudrehen, sitzen wir allein vorm Screen. Gesellschaft? Gemeinschaft? Fehlanzeige. Wir verlernen, echt zu sein – und merken es nicht mal.

Klingt dystopisch und ist es auch irgendwie. Und dabei war die Szene nie nur auf die Musik beschränkt, sondern ist auch immer ein Statement für Inklusion, Gemeinschaft und für ein echtes WIR. Doch was passiert, wenn wir das verlieren? Wenn wir nur noch Zuschauer unseres eigenen Lebens sind?

Aller Pauschalisierung zum Trotz gibt es natürlich auch diejenigen, die sich dafür einsetzen, dass man sich wieder begegnet – in echt, mit echten Menschen und echten Emotionen, so wie Nora-Sophie von Rave The Planet.

Nora-Sophie, oder einfach Nora, ist beim Aufbau 2024 zum Team dazu gestoßen und mit dem Orgabeginn für die diesjährige Ausgabe nun erstmals von Beginn an mit dabei. Sie ist Teil des Deko-Teams und erstellt Videoinhalte, doch dahinter steckt weit mehr als nur kreative Arbeit. Wir trafen sie für ein ausführliches Klartextgespräch zu Isolation, Social Media, kollektiver Erschöpfung, warum Rave The Planet viel mehr als eine große Partydemo ist und die größte Rebellion aktuell die ist, einfach wieder real zusammen zu kommen.


Macht die Realität müde? Warum wir lieber scrollen als spüren

RTP: Hi Nora und schön, dass du dir heute Zeit nimmst für unseren Talk! Starten wir mal zunächst mit ein paar Eckdaten zu dir. Du bist letztes Jahr zu uns gestoßen, wie kam es denn dazu?

Nora: Das lief spontan! Mein Freund Basti ist schon länger mit dabei und hat mich mit seiner Begeisterung für die ehrenamtliche Arbeit angesteckt. Am Aufbautag vor der Parade wurden noch helfende Hände gesucht und da ich vor der Pandemie im Bereich Club- und Veranstaltungsdeko gearbeitet habe, war ich direkt dabei. Ich habe mich sofort im Team wohl gefühlt, und für mich war schnell klar, dass ich 2025 bin ich von Anfang an dabei sein will.

RTP: Freut mich sehr. Kannst du kurz erläutern, was genau du jetzt alles für die Demo machst?

Nora: Im Bereich Content Creation ist es meine Aufgabe, Menschen für das ehrenamtliche Engagement bei Rave The Planet zu begeistern. Für die Parade braucht es jedes Jahr zahlreiche Freiwillige, ohne die sie sonst nicht stattfinden könnte. Im Deko-Team plane und gestalte ich zusammen mit einem kreativen, handwerklich starken Team den Rave The Planet Float.

RTP: Wie kann man sich das im Alltag vorstellen? Sammelst du dann ständig Ideen und gibt es regelmäßige To-dos?

Nora: Das hängt immer vom jeweiligen Projekt ab. Ein fixer Punkt ist unser wöchentlicher Jour fixe. Ansonsten arbeite ich ziemlich intuitiv. Manchmal setze ich mich gezielt hin und denke nach, manchmal kommt ein Einfall einfach zwischendurch.

RTP: Du bist ja auch für eine möglichst effektive Ansprache der Freiwilligen verantwortlich, beispielsweise bei der Suche nach Ehrenamtlichen. Das ist superwichtig, um, wie du ja sagst, die Parade zu rocken. Bedarf es da viel Überzeugungsarbeit? Und wie unterscheidet sich diese Arbeit von deiner Deko-Tätigkeit?

Nora: Im Bereich Content geht es vor allem darum, viele verschiedene Menschen abzuholen und das möglichst niedrigschwellig. Viele wissen beispielsweise gar nicht, wo und wie sie sich ehrenamtlich engagieren können. Im Deko-Bereich stehen wir oft vor ganz praktischen Themen. Materialien müssen stabil, sicher und brandschutzkonform sein und gleichzeitig darf das alles nicht zu viel kosten.

Noras Gedankenkollagen
Noras Gedankenkollagen, Foto: Sebastian Heinecke

RTP: Wenn wir mal zurückblicken auf die Zeit vor Rave The Planet, wie bist du überhaupt zur elektronischen Musik und Szene gekommen?

Nora: Für mich ist elektronische Musik ein Lebensbegleiter: abschalten, Gefühle festhalten, total im Moment sein. Jede Lebensphase hat ihren eigenen Soundtrack und bei nervigen To-Dos hilft D’n’B und kurz mal abgehen.

Mein erster Kontakt zur Szene war in der Abizeit – Magda, Berghain, KitKatClub, MIKZ. Richtig eingestiegen bin ich 2015, als ich über Freund:innen bei einem Open-Air die Dekoration gemacht habe. Daraus entstanden später mehrere Veranstaltungsreihen unter anderem unter dem Namen Rotor. Von 2017 bis 2020 war ich Teil des Shani Shanti Kollektivs. Wir organisierten Parties, Dekoaufträge in Clubs und für Festivals und hatten ein Atelier auf dem Jonny-Knüppel-Gelände, wo wir Container zu Werkstatt, Teestube und kreativem Treffpunkt umgebaut haben.

RTP: Interessante Entwicklung! Wie war die Erfahrung für dich, deine Passion aus dem Club- und Festivalkontext zu Rave The Planet zu bringen?

Nora: Die Parade letzten Sommer war die erste seit Langem – und ich habe mich im Team so wohl gefühlt, dass meine sozialen Ängste an dem Tag viel weniger waren. Ohne diese Erfahrung hätte ich große Veranstaltungen wahrscheinlich weiter gemieden. Dafür bin ich echt dankbar.

RTP: Beschreib mal bitte die Atmosphäre, die du da erlebt hast.

Nora: Gemeinschaft mit Haltung. Spaß am Raven, aber mit Bewusstsein, Verantwortung und dem Wunsch, was Sinnvolles zu bewegen.

Offline überfordert, online überinszeniert: Wer sind wir zwischen den Welten?

Ausschnitte der Rave The Planet 2024
Ausschnitte der Rave The Planet 2024, Foto: Sebastian Heinecke

RTP: Wie haben sich gesellschaftliche Interaktion und Kommunikation in den letzten Jahren verändert, insbesondere in der elektronischen Musikszene?

Nora: Ich habe das Gefühl, dass viele heute bewusster feiern gehen. Alles ist teurer geworden – da schaut man genauer hin: Preis-Leistung, Line-up, Vibe. Man geht nicht mehr einfach mit, nur weil irgendwas los ist. Die Entscheidung für eine Veranstaltung ist überlegter. Auch das Bewusstsein für Gesundheit hat sich verändert. Viele gehen nicht mehr feiern, wenn sie krank sind – selbst ein Schnupfen reicht, um zu Hause zu bleiben. Früher waren es vielleicht zwei, drei Festivals im Sommer – heute eher eins, wenn überhaupt. Es ist weniger geworden, aber dafür oft gezielter.

RTP: Geht es nur um selektiveres Weggehen oder geht es auch darum, sich öfter und stärker abzugrenzen und vielleicht sogar von realen Zusammenkünften zu isolieren?

Nora: Ja, genau das konnte ich bei mir und anderen beobachten. Ich persönlich glaube, dass die Isolation eine Art Strategie ist, um mit der täglich überfordernden Informationsflut, dem aktuellen Weltgeschehen, der schlechten Aussicht für die Zukunft, dem Druck zur Selbstoptimierung und dem permanenten Vergleichen auf Social Media umzugehen.

RTP: Kann diese Art Selbstschutz aus deiner Sicht auch zu einer Art Selbstsabotage führen? Ist Einsamkeit eher ein Zustand oder ein unbewusster Ruf nach Verbindung?

Nora: Alleinsein heißt für mich nicht zwangsläufig, einsam zu sein, im Gegenteil. Ich habe das Alleinsein oft als friedlich empfunden. Es hat mir geholfen, zur Ruhe zu kommen und bei mir zu sein. Und trotzdem war da diese Leere. Ohne andere Menschen habe ich mich auf Dauer doch einsam gefühlt. Als würde etwas fehlen, das ich mir allein nicht geben kann. Ich habe mich nach echter Verbindung gesehnt und dachte, ich kann das mit neuen „Self Care Routinen“ irgendwie ausgleichen. Self Care wird zur Selbstsabotage, wenn man sich durch das ständige Alleinbleiben zu Hause die Möglichkeit nimmt, wieder Freude zu erleben, neue Menschen kennenzulernen oder Erfahrungen zu sammeln. Wenn der Rückzug eigentlich mal Schutz war und dann zur Gewohnheit wird, die einem das Leben kleiner macht, obwohl man sich nach mehr sehnt. Ich habe das Gefühl, dass dadurch schnell ein Kreislauf entsteht: Je länger man sich zurückzieht, desto schwerer fällt es, wieder rauszugehen. Und genau das bestärkt einen dann, noch mehr zu Hause zu bleiben. Die Komfortzone wird immer kleiner und dann irgendwann zur Sackgasse.

Nora auf dem Rave The Planet Wagen, Foto: ???
Nora auf dem Rave The Planet Wagen, Foto: Jessy Macabeo

RTP: Was würdest du Menschen raten, die sich sozial zu sehr zurückziehen und in deinem beschriebenen Kreislauf aus der Abschottung nicht mehr herauskommen? Kannst du hier Erfahrungswerte teilen?

Nora: Ich kenne das Gefühl, als wäre man für immer allein, aber oft gibt es doch jemanden, der zuhört. Isolation löst das Problem nicht. Ich habe gemerkt, dass sie mich nicht glücklich macht. Ich dachte lange, ich müsste alles allein schaffen. Aber das muss man nicht. Manchmal reicht schon ein kurzes Gespräch, das etwas in einem bewegt. Und wenn gerade niemand da ist, gibt es auch anonyme Hilfe, wie zum Beispiel das Seelsorgetelefon. Belastende Gefühle können schwer auszuhalten sein und man kann das Bedürfnis haben, diese Leere mit anderen Dingen, wie zum Beispiel Süßigkeiten oder Alkohol, füllen zu wollen.

RTP: Wie siehst du das Verhältnis zwischen digitalen und analogen Beziehungen? Fördert Social Media Verbundenheit oder eher eine Illusion davon?

Nora: Ich würde sagen: beides. Digitale Beziehungen sind heute viel präsenter. Man schreibt, telefoniert, hält Kontakt übers Handy, weil oft die Kraft oder Zeit fehlt, sich zu treffen. Für viele ist das die einzige Möglichkeit, in Verbindung zu bleiben. Für Menschen, die nicht am „Draußen“ teilhaben können – aus gesundheitlichen, sozialen oder psychischen Gründen – kann Social Media sogar verbindend wirken. Es macht Sichtbarkeit und Austausch möglich, auch wenn man körperlich nicht da ist. Aber: Es ersetzt keine echte Nähe. Kurze Nachrichten oder ein Anruf helfen, in Kontakt zu bleiben, aber sie füllen meinen „Herzensakku“ nicht wirklich. Andererseits können aus digitalen Kontakten auch echte Freundschaften entstehen. Man sollte es nicht so schwarz-weiß sehen. Ich glaube, wir brauchen beides: Digitales als Brücke und das echte Leben als Raum, in dem Verbindung wirklich spürbar wird.

RTP: Warum ziehen sich so viele Menschen in virtuelle Welten zurück und fällt es ihnen deshalb schwerer, echte Beziehungen zu führen?

Nora: Ich glaube, viele ziehen sich in virtuelle Welten zurück, weil es sich dort kontrollierbarer anfühlt. Man entscheidet selbst, was man zeigt, wann man antwortet – man muss sich nicht komplett zeigen. Gleichzeitig bewegt man sich in seiner eigenen Bubble, der Algorithmus spielt einem genau das zu, was man sehen will. Es entsteht eine Art gefilterte Komfortzone, in der man sich sicher fühlt, aber in der echte Reibung und echter Austausch kaum noch stattfinden. Man nimmt eher die Position des Zuschauers einer Debatte ein. Und genau das macht es oft schwer, im echten Leben Nähe zuzulassen. Denn dort gibt es keine Filter. Da ist man plötzlich wieder vollständig, mit allem, was man sonst ausblenden kann. Man hat so eine Art Scheinbeziehung zur Welt, schaut zu, reagiert auf Stories, schickt ein Emoji und denkt, das reicht. Vielleicht, weil man’s durch die Pandemie so gelernt hat. Vielleicht auch, weil Arbeit, Stress, Alltag kaum noch Raum lassen für echte Begegnung, für die man sich Zeit nimmt, ohne im Kopf beim nächsten To-do zu sein.

RTP: Wenn wir jetzt mal den Link zu Rave The Planet setzen, welche Bedeutung hat die Demo für dich als Ort der persönlichen Begegnung, im Gegensatz zum digitalen Austausch, und warum sind solche Formate vielleicht auch ein gesunder und wichtiger Gegenpol?

Nora: Mir persönlich ist das Bedürfnis nach Verbundenheit ziemlich stark – und in der persönlichen Begegnung spüre ich viel deutlicher, wie man wirklich zusammenwächst. Die Parade ist für mich ein Ort, an dem das passieren kann. Im Gegensatz zum digitalen Austausch kann hier Nähe entstehen, die man wirklich fühlt. Solche Formate sind wichtig, weil sie uns daran erinnern, wie viel echte Verbindung mit uns macht und dass Gemeinschaft mehr ist als gemeinsame Postings und Chats.

Auszug aus „Das Alphabet der Angst: 200 Fakten rund um unsere wichtigste Emotion“ von Katharina Domschke & Peter Zwanzger (Verlag Herder, erschienden 10.02.2025)

„FOMO ist ein Akronym für ‚Fear of Missing Out‘, eine moderne Form der Torschlusspanik, und bezeichnet die Befürchtung, dass relevante Informationen, Ereignisse oder Erfahrungen in allen möglichen Bereichen des Lebens verpasst werden könnten. FOMO führt zum Abonnement von ‚Breaking News‘-Kanälen mit Push-Nachrichten, zwingt zur ständigen Statusaktualisierung in sozialen Medien wie WhatsApp oder Instagram und verleitet dazu, die Freizeit mit tausenderlei Aktivitäten und Verabredungen zu überladen und jedem Trend folgen zu müssen. Und dennoch: Es bleibt immer die Sorge, dass man etwas überhört oder übersieht, dass man übergangen wird oder übrig bleibt – so wie es bei Pink Floyd in ihrem Song ‚Time‘ heißt: ‚And then one day you find / Ten years have got behind you / No one told you when to run / You missed the starting gun.‘

FOMO mündet so nicht selten in eine Abhängigkeit von sozialen Medien mit langen Bildschirmzeiten, in Konzentrations- und Schlafstörungen, Gefühle der Einsamkeit und der Unzulänglichkeit, Beeinträchtigung von Stimmung und Lebenszufriedenheit und letztlich in Angststörungen und Depressionen. Entsprechend tut man wahrscheinlich gut daran, dem Salvador Dalí zugeschriebenen Rat ‚Have no fear of perfection, you’ll never reach it‘ zu folgen, das Smartphone dann und wann beiseitezulegen, öfter mal ‚Nein‘ zu sagen und im analogen Leben die Vorteile der Gegenbewegung von FOMO, nämlich der ‚Joy of Missing Out‘ (JOMO), zu entdecken. Vielleicht erinnern Sie sich, dass das Wegfallen von bestimmten Terminen, manchen sozialen Verpflichtungen und einigen ach so wichtigen Konferenzen zu Beginn der Corona-Pandemie durchaus auch mit einem gewissen Aufatmen einherging? Entsprechend können das achtsame Fokussieren auf die ganz unspektakuläre, nicht unbedingt sozial medienwirksame Gegenwart und das Setzen eigener Prioritäten zu einer größeren inneren Ruhe und Zufriedenheit, mehr Produktivität und Energie führen.“

Digitales als Brücke und das echte Leben als Raum

RTP: Du nennst Postings und Chats. Welche Rolle spielt Social Media denn überhaupt in deinem persönlichen Alltag? Empfindest du es als Bereicherung oder eher als Belastung?

Nora: Instagram und YouTube sind die Plattformen, die ich am meisten im Alltag nutze. Ob es eine Bereicherung oder eine Belastung ist, kommt auf meinen mentalen Zustand an. Einerseits komme ich schnell an neues Wissen und Inspiration für kreative Projekte, andererseits ist da der Druck, weil es die anderen gefühlt einfach besser machen als ich. Für mich ist es dann wichtig im Moment zu spüren, ob es mir guttut oder nicht.

RTP: Ja, das ist nachvollziehbar. Wie beeinflusst deiner Meinung nach der ständige Vergleich mit anderen in sozialen Netzwerken das Selbstwertgefühl und das reale Sozialleben?

Nora: Der ständige Vergleich in sozialen Netzwerken kann das Selbstwertgefühl stark beeinflussen. Man sieht andere, die scheinbar mehr Freunde haben, mehr erleben, erfolgreicher oder belastbarer sind, während man selbst das Gefühl hat, nicht hinterherzukommen. Der Algorithmus verstärkt das noch: Man wird ständig mit Inhalten konfrontiert, die genau auf die eigenen Unsicherheiten reagieren. Erst sieht man jemanden, der „alles im Griff“ hat, dann direkt die Tipps und How-to’s, wie man genauso wird. Und wenn man es trotzdem nicht schafft, fühlt man sich noch schlechter. Es entsteht eine Dynamik, in der man sich nicht mehr gut genug fühlt, weder im digitalen Raum noch im echten Leben. Statt Verbundenheit entsteht Druck. Und manchmal zieht man sich dann ganz zurück, obwohl man sich eigentlich nach Kontakt sehnt.

RTP: Ein Treiber dieser Entwicklung ist das Rolemodel „Influencer:in“. Wie erlebst du den Einfluss von Bindungen zu Online-Persönlichkeiten, sogenannten „parasozialen Beziehungen“ auf das Sozialverhalten von Menschen?

Nora: Es gibt schon immer Identifikationsfiguren. Nur die Idole haben sich verändert. Früher waren’s Bands oder Schauspielerinnen, heute sind es YouTuber:innen, Influencer:innen, etc. Ich habe das Gefühl, dass heute besonders junge Menschen viele Wörter und Ausdrücke direkt aus dem Sprachgebrauch von Streamer:innen übernehmen. In echten Beziehungen gibt es auch mal Kritik, Widerspruch und Reibung. In digitalen Beziehungen bleibt das meistens aus. Man schaut stundenlange Streams, ist über Stories ständig auf dem neuesten Stand – man fühlt sich verbunden, obwohl es eigentlich komplett einseitig ist. Diese Dauerpräsenz erzeugt das Gefühl einer Community, die sich echt anfühlt, aber oft nichts mit echter Beziehung zu tun hat. Vielleicht ist das auch ein Überbleibsel aus der Pandemie. Vielleicht auch einfach Kapitalismus. Manchmal frage ich mich: Werden Menschen, die sich einsam fühlen, gezielt abgeholt, nur um ihnen dann subtil Produkte zu verkaufen? Man muss schon aufpassen, was man konsumiert. Nicht jede Nähe im Netz ist ehrlich gemeint. Manche wollen nur, dass du dich gesehen fühlst, damit du danach klickst. Aber am Ende bleibt’s virtuell. Und was virtuell ist, kann niemals komplett etwas Reales ersetzen. Weil wir dort nicht alle unsere Sinne benutzen. Es fehlt das Spüren, das Gegenüber, das Unmittelbare.

Selbstschutz versus Selbstsabotage
Selbstschutz versus Selbstsabotage, Foto: Sebastian Heinecke

RTP: Legen wir diese Punkte mal auf soziales Engagement um, wovon ja auch wir als Demonstration, wie du vorhin richtig sagtest, sehr stark abhängen. Warum scheint Engagement innerhalb der Gesellschaft für viele eher eine Last als eine Chance zu sein?

Nora: Ich glaube, viele erleben gesellschaftliches Engagement nicht als Chance, sondern als etwas, das zusätzlich Arbeit kostet. In einem Alltag, der oft schon überfordert, fehlt einfach der Raum – emotional, zeitlich, manchmal auch finanziell. Und nicht jede:r spürt in sich einen Bezug dazu. Wenn der Sinn dahinter nicht greifbar ist, fühlt es sich schnell wie etwas an, das man tun sollte, aber nicht wirklich will.

Am Ende bleibt’s virtuell

Sortieren und fühlen
Sortieren und fühlen, Foto: Sebastian Heinecke

RTP: „Wir wissen alles, fühlen alles – und machen nichts.“ Ist das für dich ein Ausdruck kollektiver Ohnmacht oder das neue Normal?

Nora: Für mich ist das kollektive Ohnmacht, die auf dem Weg ist, sich zu normalisieren. Negative Nachrichten, Krisen, Dauerstress. Wir sehen das alles, wissen so viel, aber der Input ist einfach zu mächtig. Gleichzeitig läuft das System einfach weiter. Hauptsache, die Wirtschaft wächst, egal, ob Menschen am Limit sind oder das Klima kippt. Zwischen Gefühl und Handlung ist irgendwie ein Leere, wie eine Art Lähmung. Nicht aus Gleichgültigkeit, sondern weil die Kraft und der nächste Schritt fehlen. Man weiß gar nicht mehr, wo man anfangen soll und es ist demotivierend und deprimierend. Was ist das Ziel? Kann man es überhaupt erreichen? Wer macht überhaupt mit? Warum sollte ich mich verändern, wenn der andere es nicht tut? Warum sollte ich mich mit den ganzen negativen Dingen auseinandersetzen, wenn ich doch nach der Arbeit einfach nur Ruhe haben will?

RTP: Das klingt nach einer immensen gesellschaftlichen Herausforderung, der man sich stellen muss. Wie gehst du denn persönlich mit Reizüberflutung, den ganzen Krisen und gesellschaftlichem Leistungsdruck um?

Nora: Ich versuche, bewusster damit umzugehen, auch wenn’s mir nicht immer leichtfällt. Vor ein paar Monaten habe ich eine vierwöchige Instagram-Pause gemacht, und das hat richtig gut getan. Solche Konsumpausen will ich mir öfter gönnen. Ich finde es wichtig, regelmäßig zu hinterfragen, was ich wirklich brauche, welche Erwartungen ich wirklich erfüllen muss, und was mir einfach nur Energie zieht. Manchmal bedeutet das: auch mal bewusst keine Nachrichten schauen, Bewegung an der frischen Luft, kreatives Gestalten oder tanzen gehen. Momente abseits von digitalen Medien tun mir gut. Auch der Austausch mit anderen hilft mir sehr. Sich einen Safer Space zu schaffen mit Freund:innen oder Familie und zu schauen, was ich dort Gutes für mich und andere tun kann. Ich bin dankbar, dass wir aktuell noch so leben können, denn ich habe das Gefühl, politische Sicherheit ist nichts Selbstverständliches mehr.

Berlin und seine Parade
Berlin und seine Parade, Foto: Sebastian Heinecke

RTP: Nun brennen wir ja alle für unseren Sound. Inwiefern ist in dieser Gesamt-Gemengelage ein gemeinschaftliches Erleben von Musik im Vergleich zum isolierten Musikkonsum für dich von Bedeutung?

Nora: Gemeinsam Musik zu erleben ist für mich etwas ganz anderes als allein zu hören. Wenn viele Menschen zusammen tanzen und dieselbe Emotion spüren, verstärkt sich das. Es entsteht ein ganz eigener Vibe. Man fühlt sich verbunden, ohne reden zu müssen.

RTP: Wir können also festhalten, dass sich mehr soziale Gemeinschaft und echte Empathie positiv auf uns selbst und unser Miteinander auswirken können?

Nora: Ja. Es wird nur eine bessere Welt geben, wenn wir auch etwas dafür tun. Und diese drei Dinge sind für mich essenziell dafür: einander zuhören, uns wirklich verstehen wollen und nicht bei allem eine Gegenleistung erwarten. Sondern Dinge tun, weil sie sich sinnvoll anfühlen. Sinn ist für mich das, was das Leben lebenswert macht. Wenn ich nach meinen Werten leben kann, fühlt sich das echt an und erfüllend. Dieses Gefühl kann nichts anderes erzeugen. Keine Schokolade, kein Like, kein kurzer Dopaminkick.

RTP: Was wünschst du dir für die Zukunft von Rave The Planet und die elektronische Musikkultur?

Nora: Ich wünsche mir, dass Rave The Planet noch lange existiert, damit Generationen weiterhin füreinander diese Räume schaffen können. Dass die, die heute feiern, morgen vielleicht mitorganisieren. Und dass diese Idee weiterlebt: „miteinander, nicht gegeneinander“. Elektronische Musikkultur bedeutet für mich Inspiration. Musik soll Spaß machen und kein krampfhafter Wettbewerb um Klicks sein. Kein tausendster Remix ohne Credits. Ich wünsche mir mehr Sichtbarkeit für kleinere, unbekanntere Künstler:innen. Weniger Ego, mehr Gemeinschaft.

„Es wird nur eine bessere Welt geben, wenn wir auch etwas dafür tun“

Der Rave The Planet Float 2024 mit Nora auf der Straße des 17. Juni, Foto: ???
Der Rave The Planet Float 2024 mit Nora auf der Straße des 17. Juni, Foto: Jessy Macabeo

RTP: Schön zusammengefasst! Magst du uns vielleicht noch abschließend kurz erläutern, was die Szene und ihren Sound aus deiner Sicht erhaltens- und schützenswert macht?

Nora: Während der Pandemie hat man gesehen, wie wichtig Kulturräume wirklich sind. Da wird nicht nur getanzt. Da wird gesprochen, zugehört, sich ausgetauscht und das oft quer durch alle gesellschaftlichen Schichten. Solche Räume schaffen Verbindung, die man anders kaum findet. Ich freue mich, dass ich meine Gedanken zu diesen Themen teilen konnte. Viele davon hängen für mich zusammen, und es tat gut, sie mal als Ganzes zu betrachten.

Unsere gemeinsame Zukunft ist gold wert - wenn wir sie gut nutzen!
Unsere gemeinsame Zukunft ist gold wert – wenn wir sie gut nutzen, Foto: Sebastian Heinecke

RTP: Danke für das interessante Interview und dafür, dass du so viele auch sehr persönliche Erfahrungen und Emotionen mit uns geteilt hast!


Schnelles über Nora zum Schluss

Selbstbeschreibung in einem Wort: Neugierig

Sound: Aktuell D’n’B, Bossa Nova, Garage, Breakcore, Jungletekk, Hyperpop

Kann ich richtig gut: Leckeres Bananenbrot backen, Tischtennis spielen

Kann ich überhaupt nicht: Geduldig sein, total rational denken

Mag ich: Sterne schauen, Frühlingsanfang

Mag ich nicht: Oberflächlichkeit, sehr scharfes Essen

Wichtigstes Engagement und Aktivität in der Szene außerhalb von Rave The Planet: Verein zur Entspannung des Gemüts (Gründungsmitglied), Rhokultur e.V. (Gründungsmitglied)

Was du der Welt mitteilen möchtest: Ich glaube echte Veränderung kann erst da beginnen, wo wir den Mut haben, bei uns selbst ehrlich hinzuschauen, auch wenn es unbequem ist.


Autor: Kay Barton, Rave The Planet Onlineredaktion

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