Das immaterielle Berliner Techno-Kulturerbe

Gastbeitrag von DJ Westbam

Versuch einer Andeutung eines „beobachtenden Teilnehmers“.

Vorbemerkung

Der erste Tanz des Menschen verschwand so spurlos, wie der erste Dance Beat vor Jahrtausenden spurlos verhallte.

Rhythmische Abfolgen menschengemachter Geräusche, später „Musik“ genannt, dazu rhythmische Bewegungen, später „Tanz“ genannt, sind wahrscheinlich die frühesten, die originären, vielleicht sogar die konstituierenden menschlichen Kulturleistungen. Sie stehen vielleicht, vor allem anderen, an der Wiege des Homo sapiens sapiens.

„In song and in dance I express myself as a member of a higher community“
(Frankie Goes To Hollywood – „Welcome To The Pleasure Dome“)

Marcel Duchamp behauptete einmal, das französische Wort für Kunst „art“ käme aus dem Sanskrit und würde sich schlicht von „machen“ ableiten. Neue Kultur wurde in der Geschichte der Menschheit meistens ganz beiläufig „gemacht“. Und wahrscheinlich aller meistens bevor es einen Kulturbegriff davon gab.

Summer of Love (1988) und der 09. November 1989

Technokultur wurde in Berlin seit den späten 80ern Jahren „gemacht“. Im Herbst 1988 tanzte eine verlorene Gruppe von Leuten in einem Keller, genannt „UFO“, zu einem neuen Tanzstil, namens Acid. Das UFO lag im Westberliner Abschnitt der Köpenicker Straße.

Wie die Höhlenmaler, hatten auch diese vielleicht 50 oder 60 Menschen, wahrscheinlich keine Idee von dem großen Kulturmoment, der das im Grunde war – keiner dieser Leute konnte ahnen, was nur ein paar Jahre später daraus werden würde. Welche Wichtigkeit und Wirkungsmacht diese neue Kultur, in dieser Stadt, in den nächsten Jahren entwickeln würde.

Vielleicht wäre auch nichts daraus geworden, wenn die Dinge anders gelaufen wären. Vielleicht wäre es bei diesem flüchtigen, heute längst vergessenen Moment geblieben. Wäre zufällig, ein Jahr später, nicht auch noch die Berliner Mauer gefallen. Danach tauchten ganz neue Menschen auf. Und der Acid House/Techno House Sound verband sich wie kein anderer Musikstil mit der Magie des Augenblicks. Er gab dem Moment, der die Stadt, das Land, die Welt veränderte, einen Klang, der so neu und krass war, wie die Situation selbst.

Wir würden heute nicht diskutieren, ob Technokultur in Berlin zum „Immateriellen Kulturerbe“ zählt. Aber so, wie die Gesamtgeschichte lief, tanzten schon drei Jahre später über hunderttausend Leute zur Love Parade über den Ku`Damm. Und nur zehn Jahre später über eine Million Menschen, aus aller Welt, um die Berliner Siegessäule.

Eine neue Zeit brach an und von Berlin aus wurde Techno der Soundtrack dieser neuen Zeit.

1988, UFO

Der psychedelisch-avantgardistisch pumpende „Acid“ Sound, der im UFO lief, hatte sich 1987 in Chicago als kleineres „Underground“-Subgenre der Chicagoer House Music gebildet. Im folgenden Jahr, 1988, wurde in London, der Hauptstadt der britischen Pop Nation, Acid mit einem Smiley versehen und mit einem kurzerhand übergestülpten „swinging 60’s“ Überbau von Hippie-Ideologie ausgestattet („Love and Peace“). Unter dem Banner „Summer of Love“ wurde Acid zu einem der ersten größeren Pop-Hypes des gerade aufgehenden „Age of the DJ Mixer“, der noch im selben Jahr die Dance Floors der Welt eroberte.

Mit einer kleinen Verspätung erreichte der Summer of Love im Spätherbst einen weltabgewandten, etwas verschrobenen und eher moderesistenten Ort, der popgeschichtlich bis dahin nicht besonders aufgefallen war: West-Berlin.

1945 – eine kurze Vorgeschichte (Teil 1)

Aufgrund der deutschen Teilung nach dem zweiten Weltkrieg und der daraus folgenden „Insellage“ West-Berlins, entstand für West-Berliner eine neue, von vielen als „extrem“ empfundene Lebenssituation. Die eingemauerte, halbierte Stadt wurde als Wirtschaftsstandort insbesondere nach 1961 stetig unattraktiver. Während mit Industriegiganten, wie Siemens und AEG, auch deren Arbeitsplätze nach West-Deutschland umzogen, wurde Berlin seit den späten 60er Jahren immer mehr ein Anziehungspunkt, ja Sehnsuchtsort verschiedenster, gesellschaftlicher Subszenen, die sich genau von der desperaten Lage und der Extremität der Situation angezogen fühlten. Und denen vor allem eins gemeinsam war: Sie suchten nicht nach einem geregelten Leben mit einer geregelten Arbeitsbiographie, sondern nach „alternativen Lebensentwürfen“.

1701 Potsdam, Sanssouci – eine kurze Vorgeschichte (Teil 2)

Eine höhere Toleranz für „alternative Lebensentwürfe“, das hatte in Berlin eine längere Tradition, die schon im frühen 18. Jahrhundert auf den Punkt gekommen war. Mit dem bekannten Motto Friedrichs des Großen: „Jeder soll nach seiner Fasson selig werden.“

Roaring 20’s – eine kurze Vorgeschichte (Teil 3)

Die Suche nach der „Seligkeit“ im Sinne des alten Fritz fand im Laufe der Geschichte immer wieder ein Echo in der Berliner Kulturgeschichte. Ein anderes Beispiel wäre das ultra freizügige, brodelnde Nachtleben Berlins während der sogenannten „Roaring 20’s“.

Im steten Wechsel, der immer typisch war für die Stadt („Mensch Berlin, wie haste dir verändert“), stellte sich die Frage nach der „Fasson“, die vielleicht zur Seligkeit führen könnte, im Berlin der 80er und 90er, in Ost wie in West, ganz neu.

1968-1988 in den Sektoren der Westmächte

Während viele gebürtige Berliner auf der Suche nach einem Arbeitsplatz, einer Karriere oder auch nur einer „normaleren“, weniger extremen Lebenssituation ihre Stadt Richtung „Wessiland“ verliessen, erschien zunehmend eine neue Form von Wahlberlinern, die sich genau von der Extremität der Lage der Stadt angezogen fühlten. Künstler, Hippies, Punks, Homosexuelle, Bundeswehrflüchtlinge, „ewige Studenten“, Anarchos und Politfreaks, „Radikalinskis“ aller Couleur, Sympathisantenszene (der RAF) und „schillernde“ Persönlichkeiten aus aller Welt (mit dem Aufenthalt von David Bowie und Iggy Pop als den wohl leuchtendsten Beispielen). Kurz: Leute aus dem „Leftfield“ der Gesellschaft waren in Westberlin irgendwann, ab den 70ern, im Bevölkerungsdurchschnitt wesentlich zahlreicher anzutreffen, als im Rest der Republik. Sie bildeten die soziologische Grundlage für alles „Schräge“, alle „Off-Kultur“, auf der später auch Technokultur in ihrer eigenartigen und einzigartigen Berliner Version sproß. Und auch die war wie Berlin selbst: Etwas seltsam. Etwas verloren. Etwas „arm aber sexy“.

In allen „schrägen“ Sub-Szenen, war vielleicht nur ein gemeinsamer Nenner zu erkennen: Ein Misstrauen gegenüber einem übermäßig fremdbestimmten, zu stark staatlich reglementierten Leben.

Ironischerweise tat der Bundesdeutsche Staat sehr viel, um Berlin für genau diese eher renitenten Gesellschaftsschichten interessant zu machen. Die Sperrstunde wurde abgeschafft. Die Berlin Zulage wurde angeschafft. Ob es um offene Prostitution ging oder um besetzte Häuser oder eine weit über Zero liegende Toleranz in der Drogenpolitik (siehe auch: „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“). Es drängte sich der Eindruck auf, dass wenn Westberlin schon nicht für die arbeitende Bevölkerung attraktiv gemacht werden konnte, dann doch wenigsten für irgendwen.

1980

Anarchistische Tendenzen, die bis heute auch typisch für Berliner Techno sind, geisterten als Grundstimmung durch große Teile des Westberliner Kulturlebens. Im engeren Sinn gab es zwei musikalische Subszenen, die den Werdegang der Berliner Technokultur beeinflussten.

Auf der einen Seite war das der low-fi und low-budget Sound der „genialen Dilettanten“, von Bands wie den „Einstürzenden Neubauten“, der „tödlichen Doris“ oder „Sprung aus den Wolken“, oder auch der minimalistische Sequenzer-Sound der Düsseldorfer Band „DAF“.

Auf der anderen Seite war es der schwule Dance Underground rund um den Schöneberger Club Metropol, wo bereits in den späten 70er Jahren die Nacht durchgetanzt wurde, zu einem stets auf 130 BPM pumpenden „Four To The Floor“-Beat.

Im UFO schienen Krach und Avantgardismen der genialen Dilettanten mit der „uplifting“ Energie einer schwulen Hi-NRG Party zusammengemixt zu sein. Der Gegensatz zwischen Disco-Spaß und dem Spaß an der Rotzigkeit von Punk, und innovativen Experimentalmusik-Krassheiten, schien zum ersten mal zusammen zu gehen.

DDR 1949-1989 – Ein kurzer Blick über die Mauer

Ganz anders als in Westberlin – besser: konträr – hatte sich die Lebenssituation der Berliner im Ostteil der Stadt entwickelt. Hier regierte bekanntlich der von der sowjetischen Besatzungsmacht nach 1945 installierte SED-Staat mit harter Hand und unterdrückte nach bestem Vermögen, und mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln des Polizei- und Überwachungsstaates, alle ihm verdächtigen Regungen seiner Bürger, die nach persönlicher Freiheit strebten. Alle jene Regungen die dem staatlich verordneten „Weg zum Glück“ zuwider liefen.

Und während im Laissez-faire-Teil der Stadt zum CSD längst schon Schwule und Lesben auf dem Ku’damm lautstark, schrill und halbnackt für ihre Rechte demonstrierten, und der allgemeine zivile Ungehorsam dort so erstarkt war, dass allein schon eine polizeiliche Personenkontrolle auf einem Kreuzberger Straßenfest zu einer Straßenschlacht führen konnte (so z. B. geschehen am 30. Mai 1987), lag die Toleranzgrenze für staatliche Repressionsmaßnahmen im Ostteil der Stadt wesentlich niedriger.

Eine Frisur, die vermeintlich nicht zur „sozialistischen Moral“ passte, konnte diese schon auslösen. Und es brauchte keine wildgewordenen, halbnackten Raver, die in illegalen Kellern zu krassester elektronischer Musik durchdrehten. Im Ostteil reichte ein sogenannter „Blues Gottesdienst“ damit sich der SED-Staat in seiner Existenz bedroht fühlte. Es reichte schon ein blasser Liedermacher, der ganz leise, zu einer akustischen Gitarre, zarteste, nur dem Leser „zwischen den Zeilen“ überhaupt wahrnehmbare, staatskritische Andeutungen machte, damit die Staatsorgane um sich schlugen, mit allen Mitteln, von Verhaftungen über „persönlichkeitsdestabilisierenden Maßnahmen“, bis hin zur „Ausbürgerung“.

Bei aller Bemühung nach flächendeckender Kontrolle durch den Stasi-Überwachungsapparat gelang es den „Sicherheitsorganen der DDR“ nie ganz, die Sehnsucht ihrer Bürger nach persönlicher Freiheit zu unterbinden. Die Sehnsucht nach Meinungs-, Versammlungs- und Reisefreiheit. Und nicht zuletzt auch die Sehnsucht nach freiem Zugang zur glitzernden und Glück versprechenden West-Welt.

Der Acid Sound war eines dieser krassen „westlich-dekadenten“ Freiheits- und Glücksversprechen aus dem Westen, das vom „Sender Freies Berlin“, in seinem speziellen „SFBEAT“ Format ausgestrahlt, in Form von Radiowellen die Mauer überquerte und im Osten Sehnsüchte auslöste, die dort bestimmt tiefer gingen, als an dem Ort, von dem die Signale abgeschickt worden waren, wo alles erlaubt und direkt verfügbar war.

Als die DDR im Sommer 1989 an ihrem Ende ankam, begann sie, im Verzweiflungsmodus angekommen, auf den letzten Metern alle „guten sozialistischen Sitten“ über Bord zu werfen. In diesem Zusammenhang wurde mir, Westbam, ein Engagement in der Werner-Seelenbinder-Halle in Ostberlin angeboten. Veranstaltet von niemand anderem, als der FDJ (der „Freien deutschen Jugend“).

Wie sich herausstellte, sollte es die bis dahin größte Techno und House Party werden, die in Berlin, sogar in ganz Deutschland, bis dahin stattgefunden hatte. Um die 10.000 Partygäste waren erschienen. Und das war erst der erste Vorgeschmack von dem, was ab Ende ’89 kommen sollte.

Gleich am ersten Wochenende nach Maueröffnung, war das UFO plötzlich so voll wie nie zuvor. Nachdem es in der zweiten Jahreshälfte eher so ausgesehen hatte, als hätte der Club seine besten Tage schon hinter sich. Vor dem UFO sah man jetzt Trabis stehen. Und drinnen sah man jetzt Kids, die sich die Seele aus dem Leib und die Vergangenheit aus dem Kopf tanzten.

Es waren genau diese Menschen, die mit ihrer Euphorie, dem Moment das Einzigartige, vielleicht sogar das Heilige gaben.

Bald schon eröffneten die UFO-Veranstalter in einem Keller im Niemandsland zwischen Ost und West, am Potsdamer Platz, einen neuen Club, namens Tresor, der später weltbekannt wurde.

Die einzigartige Techno-Erfolgsgeschichte von Berlin begann. Es folgten Clubs wie der Planet, der Walfisch, das WMF, das Gymnastik, das Exit, das E-Werk… und so weiter und so weiter. Bis zu den weltbekannten Clubs der Jetztzeit ,wie Berghain und Watergate, brach die Parade neuer Techno-Locations in Berlin nie wieder ab. Und Technokultur ist in Berlin schon seit Jahrzehnten keine Frage von Mode mehr, sondern ein Berliner „Way of Life“.

Nicht nur neue Clubs poppten beständig auf, auch neue Veranstalter, neue DJs, neue Acts und Aktivisten, neue Generationen, neue Berliner aus aller Welt, entwickelten die Berliner Techno Schule immer weiter.

Auch als die euphorische Stimmung verflog, die befeuert gewesen war vom Glauben an Demokratie und westlich-liberalen Werten, von Zukunfts- und Fortschrittsbegeisterung, brachte die Berliner Technokultur neue Event-Konzepte und neue passende Klänge hervor, die die neue – jetzt verunsicherte – Stimmung abbildete.

So wie die Euphorie der 90er einen passenden Ausdruck in den leicht größenwahnsinnigen „Happy Hardcore Rave Signals“ gefunden hatte, die von der Love Parade aus um die Welt gingen, so fand die folgende gesellschaftliche Verunsicherung einen ganz anderen Ausdruck.

Die Ernüchterung, die einerseits durch die Verwerfungen und Probleme der Wiedervereinigung, andererseits nicht zuletzt durch die nächste weltpolitische Zäsur nach dem Mauerfall, nämlich den Fall der World–Trade-Center-Türme in New York ausgelöst worden war, fand einen neuen Ausdruck, der sich erneut als erstes in Berlin auskristallisierte. Und dort am klarsten im Berghain. Wo es in der neuen Technokultur nicht mehr darum ging, den Weltfrieden herzustellen, indem man die gesamte Menschheit zur Love Parade Abschlusskundgebung an der Siegessäule versammelt. Die Berghain-Jünger suchten ihre Seligkeit jetzt im „Save Space“ jenseits der Berghain-Gesichtskontrolle. Einem Ort an dem man sich geschützt fühlen konnte und in Sicherheit vor den Anfechtungen einer Welt, die man jetzt nicht mehr retten wollte, sondern eher als Bedrohung wahrnahm. Der Glaube an die großen Lösungen und das Ende der Geschichte war dahin und das drückte sich jetzt auch im Berliner Sound dieser Jahre aus: Nach den Rave Signals kamen jetzt die zurückhaltenden Minimalismen, die von DJs wie Ricardo Villalobos, aus dem Berghain, aus Berlin, um die Welt gesandt wurden. Jetzt als stille Post.

Love Parade

Techno Tracks, Techno Clubs, Techno DJs , Techno-Bücher, Techno-Filme, Berliner Techno „Oral History“ – in nichts anderem erscheint mir die Kulturleistung der Berliner Technoszene klarer und offensichtlicher, als in der wundersamen Geschichte der Love Parade.

Geboren im Summer of 1989 in „ärmlichen Verhältnissen“ aus einer Berlin-typischen verschrobenen Mischung aus Naivität, Größenwahn, verteiltem Spinnertum und Performance-Kunst, zu viel Freizeit und zu wenig Geld, entstanden, aus einer Freude an Anarchie und Politclownerie, und natürlich auch aus Musikbegeisterung, startete die Love Parade von einem obskuren kleinen Umzug von 150 Leuten, die mit einer seltsamen Mischung aus Verrenkungen, irgendwo zwischen marschieren und tanzen den Ku’damm Richtung Adenauerplatz herunterkam. Und dann wurde die Love Parade zu einem der wichtigsten und wundersamsten Orte der nationalen Neuerfindung Deutschlands.

Die deutsche Wiedervereinigung war bekanntlich von den Nachbarn zunächst mit Besorgnis aufgenommen worden. Das Verrückte: die Besorgnis wurde irgendwie sogar von den Deutschen geteilt. Zwar hatte Deutschland die katastrophalen Irrwege seiner Geschichte mustergültig und wie vielleicht keine Nation vor ihr mit „deutscher Gründlichkeit“ aufgearbeitet. Die Frage „Wer sind wir eigentlich?“ hatte die Nation aber, im Anbetracht der übermächtigen nationalen Schande, weitestgehend bis zur weiteren Klärung ist noch mal zurückgestellt.

Meine These (und ich bin mir bewusst wie übertrieben das auf den ersten Blick wirkt): Die neue, die bessere deutsche Identität wurde nirgendwo sonst so sehr gefunden und erfunden und befördert wie aus der Straße des 17. Juni zur Love Parade.

Denn bis dahin galt: Die Deutschen waren auf ihren Selbstfindungstrips meistens eher negativ aufgefallen, mit Sätzen wie „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“.

Mit deutschen „Sekundärtugenden“ konnte man sich vielleicht abfinden, aber es war definitiv keine Fasson, nach der ein Land selig werden konnte. Fleiß, Pünktlichkeit, Disziplin, Ehrgeiz, Willensstärke: Damit konnte man verlässliche Autos bauen und vielleicht mal wieder ein Elfmeterschiessen gewinnen. Aber um ein entspanntes Selbstbild und ein gesundes Selbstbewusstsein zu bekommen, um wirklich „aus den Ruinen aufzuerstehen“, die die deutsche Selbstfindung überreichlich an ihrem Weg zurückgelassen hatte: Dafür war es einfach nicht genug.

Aber auf der Love Parade erfand sich Deutschland neu. Plötzlich und zum ersten mal in seiner so oft tragischen Geschichte, war Deutschland ein lockeres Land, ein Partyland, ein entspanntes, hippes und moderne Land, weltoffen und „welcoming“, freundlich und sympathisch. Vielleicht konnte sich das Land zum ersten mal in seiner Geschichte sogar selbst mögen. Und vielleicht zum ersten mal in seiner Geschichte auch von anderen gemocht werden.

Irgendwann rieb man sich die Augen: Bei einer weltweiten Umfrage der BBC war ausgerechnet Deutschland die beliebteste Nation auf Erden.

Ich möchte diese sehr überraschende Neubewertung Deutschlands aus einer Umfrage nicht überinterpretieren und das Ergebnis auch nicht exklusiv als Verdienst der Berliner Technokultur reklamieren. Aber eines scheint mir sicher: Kein anderes Musikevent hat, über den Spaß an Musik hinaus, mehr bewegt in den Köpfen der Menschen, kein anderes Musikevent in diesem Sinne mehr geleistet, als die Love Parade.

Schlussbemerkung:

Woher kommt die jahrzehntelange Wirkungsmacht von Technokultur in Berlin? Was macht die Einzigartigkeit, die „Magie“ dieser Kultur gerade in Berlin aus? Warum verblassten Techno und House in anderen Metropolen? Warum fielen sie anderswo als kurzzeitige Trenderscheinungen in den Orkus des Bedeutungslosigkeit zurück, während Techno Berlin nie losliess?

Wie kann es jetzt zum Beispiel wieder sein, dass eine kleine Gruppe um Dr. Motte, eine Demonstration unter dem völlig neuen Titel – „Rave the Planet“ – ansagt, ohne große Budgets, ohne große „Manpower“, ohne staatliche Unterstützung, ohne „Rücken“ großer Sponsoren, und trotzdem tanzen dort, scheinbar aus dem Nichts kommend, plötzlich hunderttausende von Menschen?

Es ist ein Wunder. Only in Berlin.

Ich kenne jedenfalls keinen Ort irgendwo auf der Welt, wo das auch so passieren könnte. Warum? Ich glaube, das kann man nur verstehen, wenn man den größeren geschichtlichen Kontext anschaut, wie ich es hier versucht habe.

Es mag überraschend scheinen, dass in einem Text, der die Wichtigkeit der Technokultur in Berlin als „Kulturerbe“ begründen möchte, so viel über die graue Vorgeschichte erzählt wird, über Friedrich den Großen, Stasi und die Einstürzenden Neubauten, über Politik, Systemvergleiche etc. Aber wenn man verstehen will, warum Berliner Technokultur so ein einzigartiges und wirklich schützenswertes Kulturgut ist, muss man diesen Kontext verstehen. Das glaube ich jedenfalls.

Denn: Was macht ein Kulturereignis menschheitsgeschichtlich besonders bemerkenswert? Was verleiht ihm eine höhere Bedeutung? Doch wohl genau dies: dass sie im Zusammenhang mit einem Wendepunkt der Menschheitsgeschichte steht und diesen, auf die eine oder andere Art, seiner Art gemäß reflektiert, vielleicht sogar inspiriert, und mit ihm zu einem neuem, „zwingendem“ Ausdruck verschmilzt. Eine Kulturleistung ist besonders dort wichtig und groß, wo sie einen historischen Wendepunkt markiert, ihn bezeichnet, ihm ein Bild verleiht – oder einen Klang.

Und übrigens: dafür muss und musste immer Kunst und Künstler zur rechten Zeit am rechten Ort sein. Der Genius des individuellen Künstlers wird in der retrospektiven Betrachtung immer gerne hoch eingeschätzt und wahrscheinlich meistens überschätzt. Kultur bekam selten, vielleicht nie, eine Bedeutung dadurch, dass sich jemand etwas besonders originelles ausgedacht hat. Sondern es war immer so, dass eine besondere, historische Situation sich die Künstler suchte, die der Situation einen passenden neuen Ausdruck verliehen.

Hätte nie jemand vorher oder nachher so malen können wie Leonardo da Vinci, Picasso oder Van Gogh? Auf jeden Fall wäre das möglich gewesen. Es war und ist immer der historische Kontext, der die Größe der Kulturleistung bestimmt. Und würden da Vinci’s Bilder nicht perfekt vollendet das Ende des Mittelalters markieren, oder die von Picasso nicht den Beginn der Moderne: sie wären nur mehr oder wenig gelungen gesetzte Farbtupfer auf einer Leinwand. Und in diesem Fall genauso banal, wie irgendein bedeutungsloses DJ Set – irgendwo, irgendwann – das mir nichts spezielles erzählt, über mich und die Welt in der ich lebe. Und das ist der Punkt: Die Techno-Sets im Berlin der Wendejahre taten genau dies.

Der Technosound der 90er Jahre kam zwar keineswegs exklusiv aus Berlin. Aber er wurde genau hier aufgeladen, mit der Energie der Träume und Hoffnungen einer neuen Zeit. Und genau davon erzählt die Berliner Technokultur in ihren besten Momenten.

Wenn das kein immaterielles Weltkulturerbe ist, dann weiß ich nicht, was das Wort bedeuten soll.


Über den Autor

Westbam, alias Maximilian Lenz, ist ein deutscher DJ, Musikproduzent und Autor. Er hat maßgeblich zur Entwicklung der Technoszene beigetragen und war bereits in den 80er und 90er Jahren als Künstler erfolgreich. Seine energiegeladenen DJ-Sets und seine vielfältigen musikalischen Einflüsse, die von Techno und House bis hin zu HipHop und Punk reichen, haben ihm den Respekt und die Anerkennung einer weltweiten Fangemeinde eingebracht.

Geboren in Münster, startete er seine Karriere als DJ und veröffentlichte Hits wie „Monkey Say, Monkey Do“. Westbam war als einziger DJ von 1989 bis 2008 bei der Loveparade dabei und beeinflusste die Technokultur sowohl mit seiner eigenen Musik, als auch mit seinen legendären Plattenlabels „Low Spirit Recordings“ und „Electric Kingdom“ und nicht zuletzt als ehemaliger Mitveranstalter der Mutter aller Raves, der „Mayday“.

Sein großes musikalisches und kulturelles Know-how, haben Westbam immer wieder auch zu Exkursionen in anderen Genres angetrieben. Zuletzt konnte dies in seinem Projekt „Westbam meets Wagner“ erlebt werden, das er in Kooperation dem Gewandhaus Orchester in Salzburg und Leipzig aufführte.

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